28.06.12 |
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Aus: Übungen im Öffentlichen Recht für Anfänger WS 2000/01 (aktualisiert SS 2012) |
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LÖSUNGSSKIZZE:
(im Anschluss an BVerfGE 90, 145 = NJW 1994, 1577).
Mary Jane wird ihrer Freundin möglicherweise antworten, dass das BVerfG ihr weiterhelfen kann, wenn sie dort Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG erhebt. Dann müsste eine Verfassungsbeschwerde gegen das Strafurteil allerdings Aussicht auf Erfolg haben, d.h. zulässig und begründet sein.
A. Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde
[Begründetheit] [Vertiefungshinweis]
I. Beteiligtenfähigkeit: (+) (® jedermann)
II. Maßnahme öffentlicher Gewalt: (+) (® Gerichtsurteil)
III. Behauptung einer Grundrechtsverletzung (= Beschwerdebefugnis)
1) Geltendmachung der Verletzung eines grundgesetzlich geschützten Grundrechts: (+)
· hier: der Grundrechte aus Art. 3 I GG (Gleichheit) und 2 I GG (Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit)
2) Behauptung einer spezifischen Grundrechtsverletzung: (+)
· beachte: Der Gang vor das BVerfG ist keine Verlängerung des herkömmlichen Rechtsweges, sondern darf nur der Überprüfung auf spezifische Verletzungen von Grundrechten durch die angegriffene Gerichtsentscheidung dienen. Das BVerfG prüft nicht, ob das Fachgericht die einschlägigen Vorschriften nach den Maßstäben des jeweiligen Fachgebietes falsch angewandt hat.
· Maria Juana kann hier geltend machen, das Gericht habe die Bedeutung der Grundrechte aus Art. 3 I GG und Art. 2 I GG bei der Entscheidung über eine etwaige Anwendung des § 29 V BtMG zu ihren Gunsten verkannt. Art. 29 V BtMG ist eine Ermessensvorschrift (vgl. den Wortlaut "kann von einer Bestrafung ... absehen..."), und bei der Ausübung von Ermessen haben alle Hoheitsträger und damit auch die Strafgerichte die besondere Bedeutung der im Einzelfall möglicherweise betroffenen Grundrechte zu beachten. - Außerdem kann Maria Juana geltend machen, bereits die Strafandrohung in § 29 I Nr. 1, 3 BtMG sei verfassungswidrig und das Strafgericht habe ihre Grundrechte aus Art. 3 I und 2 I GG schon dadurch verletzt, dass es diese Bestimmungen angewandt habe, ohne sie zuvor im Wege eines konkreten Normenkontrollverfahrens nach Art. 100 I GG vom BVerfG auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen.
3) Eigene, gegenwärtige und unmittelbare Beschwer: (+)
IV. Rechtswegerschöpfung und Wahrung von Frist und Form
Maria Juana kann erst dann Verfassungsbeschwerde erheben, wenn der Rechtsweg erschöpft ist (vgl. § 90 II 1 BVerfGG), d.h. nachdem sie ohne Erfolg von den im Strafprozessrecht vorgesehenen Rechtsmitteln Berufung und Revision (§§ 312, 333 StPO) Gebrauch gemacht hat. Der Antrag wäre dann schriftlich und begründet innerhalb eines Monats einzureichen (vgl. §§ 93, 92, 23 I BVerfGG).
Eine Verfassungsbeschwerde der Maria Juana wäre - nach Erschöpfung des Rechtsweges - zulässig.
B. Begründetheit einer Verfassungsbeschwerde
[Zulässigkeit] [Vertiefungshinweis] [Sachverhalt]
Eine Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn der Beschwerdeführer durch die angegriffene Maßnahme der öffentlichen Gewalt in einem seiner Grundrechte verletzt ist (vgl. Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 90 I, 95 I BVerfGG). Hier könnte Maria Juana durch das Urteil des Strafgerichts (in der Gestalt, die dieses Urteil nach Durchlaufen des Rechtsweges gefunden hat) in ihrem Gleichheitsrecht (Art. 3 I GG) und in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) verletzt und eine Verfassungsbeschwerde deswegen begründet sein.
I. Verletzung des Grundrechts aus Art. 3 I GG
[Verletzung des GR aus Art. 2 I GG]
Maria Juana könnte in ihrem Grundrecht aus Art. 3 I GG verletzt sein, weil sie für den Erwerb und Besitz der Droge Marihuana (Cannabis-Kraut) bestraft worden ist, die Alkoholexzesse auf dem "Schluckspecht-Fest" hingegen unbestraft geblieben sind. Der allgemeine Gleichheitssatz verbietet es, wesentlich Gleiches ungleich und wesentlich Ungleiches gleich zu behandeln, d.h. zu Lasten eines Teiles der Bürger Differenzierungen vorzunehmen, die nicht durch einen Differenzierungsgrund von hinreichendem Gewicht sachlich gerechtfertigt sind.
1) Gleich- oder Ungleichbehandlung (® Vergleichsgruppen)
· hier: Ungleichbehandlung von Bürgern, die bestimmte weiche Drogen erwerben oder besitzen, um sie selbst zu konsumieren, nämlich Marihuana und Alkohol.
2) Willkürlichkeit der Ungleichbehandlung (keine Rechtfertigung durch sachl. Differenzierungsgrund)
a) Vorliegen eines sachlichen Differenzierungsgrundes: (+)
· Der Gleichheitssatz gebietet nicht, alle potentiell gleich schädlichen Drogen gleichermaßen zu verbieten oder zuzulassen. Der Gesetzgeber kann nicht nur nach der Wirkung der Stoffe differenzieren, sondern - wie hier - auch nach anderen Kriterien, wie den verschiedenartigen Verwendungsmöglichkeiten (deshalb trotz "Schnüffel"-Gefahr kein Verbot von Klebstoffen), der Bedeutung der verschiedenen Verwendung für das gesellschaftliche Zusammenleben, den rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten, einem Missbrauch mit Aussicht auf Erfolg entgegenzutreten sowie den Möglichkeiten und Erfordernissen einer internationalen Zusammenarbeit bei Kontrolle und Bekämpfung der Betäubungsmittel und der mit diesen handelnden kriminellen Organisationen. [1]
b) Hinreichendes Gewicht des Differenzierungsgrundes
· Nach neueren Entwicklungen in der Rechtsprechung des BVerfG (die aber mittlerweile z.T. auch schon Jahrzehnte zurückliegen) ist es bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen nicht ausreichend, dass sich überhaupt ein sachlicher Grund finden lässt: Zwischen den Fallgruppen müssen Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können. Ungleichbehandlung und rechtfertigender Grund müssen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. [2]
· Diese Voraussetzung ist nach Ansicht des BVerfG bei der einseitigen Bestrafung des Erwerbes und Besitzes von Marihuana erfüllt:
"Für
die unterschiedliche Behandlung von Cannabisprodukten und Alkohol sind ...
gewichtige Gründe vorhanden. So ist zwar anerkannt, dass der Missbrauch von
Alkohol Gefahren sowohl für den einzelnen wie auch die Gemeinschaft mit sich
bringt, die denen des Konsums von Cannabisprodukten gleichkommen oder sie
sogar übertreffen. Gleichwohl ist zu beachten, dass Alkohol eine Vielzahl
von Verwendungsmöglichkeiten hat, denen auf Seiten der rauscherzeugenden
Bestandteile und Produkte der Cannabispflanze nichts Vergleichbares
gegenübersteht. Alkoholartige Substanzen dienen als Lebens- und Genussmittel;
in Form von Wein werden sie auch im religiösen Kult verwandt. In allen
Fällen dominiert eine Verwendung des Alkohols, die nicht zu Rauschzuständen
führt; seine berauschende Wirkung ist allgemein bekannt und wird durch
soziale Kontrolle überwiegend vermieden. ... Weiterhin sieht sich der Gesetzgeber
auch vor die Situation gestellt, dass er den Genuss von Alkohol wegen der
herkömmlichen Konsumgewohnheiten in Deutschland und im europäischen
Kulturkreis nicht effektiv unterbinden kann. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet
nicht, deswegen auf das Verbot des Rauschmittels Cannabis zu verzichten."
[3]
(Obwohl die von Fachkenntnissen geprägten Ausführungen des BVerfG darauf schließen lassen, dass sich das Gericht eingehend mit dem Alkohol befasst hat, werden sie sicherlich nicht jeden unvoreingenommenen und fest im Leben stehenden Leser überzeugen. Es ist daher ratsam, nach weiteren Argumenten Ausschau zu halten. Dabei dürfte auch darauf einzugehen sein, dass Marihuana und Haschisch nach wie vor als Einstiegsdrogen für erheblich gefährlichere Stoffe dienen, was sich von Alkohol so allgemein nicht behaupten lässt. Jedenfalls aber muss hier argumentiert werden!)
Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Gründe für eine Ungleichbehandlung von Marihuana und Alkohol von so erheblichem Gewicht sind, dass die einseitige Bestrafung des Erwerbes und Besitzes von Marihuana nicht als willkürlich anzusehen ist.
Maria Juana ist dadurch, dass nur sie und nicht auch die Veranstalter und Teilnehmer des großen "Schluckspecht-Festes" mit Strafe belegt wurde, nicht in ihrem Grundrecht aus Art. 3 I GG verletzt.
II. Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 I GG
[Verletzung des GR aus Art. 3 I GG] [Zulässigkeit] [Sachverhalt]
Maria Juana könnte aber dadurch, dass sie wegen des Erwerbes und Besitzes einer nur geringen und ausschließlich zum Eigenverbrauch bestimmten Menge der eher harmlosen Droge Marihuana zu einer Geldstrafe verurteilt worden ist, in ihrem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 I GG) verletzt sein. Dann müsste die an den Drogenerwerb und -besitz anknüpfende Bestrafung einen Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts darstellen, der nicht durch eine Grundrechts-Schranke verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.
1) Eingriff in den Schutzbereich: (+)
· beachte: das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 I GG) ist (nach heute fast allgemeiner Ansicht) nicht nur ein Recht zur geistig-sittlichen Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, sondern schützt die menschliche Handlungsfreiheit im weitesten Sinne (= allgemeine Handlungsfreiheit). [4]
· die allgemeine Handlungsfreiheit wird durch die Verurteilung zu einer Geldstrafe gleich zweifach betroffen, nämlich zum einen durch die hoheitlich auferlegte Geldleistungspflicht und zum anderen durch das auf diesem Weg durchgesetzte allgemeine Verbot des Erwerbes und Besitzes von Produkten der Cannabis-Pflanze, das sich aus § 29 I Nr. 1 u. 3 BtMG ergibt.
2) Verfassungswidrigkeit dieses Eingriffs (Fehlen einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung durch Grundrechts-Schranken)
Angesichts der von den Drogen ausgehenden Gefahren könnte hier allerdings eine Grundrechts-Schranke den Eingriff rechtfertigen. Für das Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit bestimmt das Grundgesetz bereits in der Grundrechtsgewährleistung in Art. 2 I selbst drei (verfassungsunmittelbare) Schranken, die sog. Schranken-Trias: die Rechte anderer, das Sittengesetz und die verfassungsmäßige Ordnung. Von praktischer Bedeutung ist im wesentlichen nur die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung, die i.d.R. bereits ihrerseits zu einem ausreichenden Schutz der Rechte anderer und zu einer ausreichenden Berücksichtigung der überlieferten und allgemein anerkannten Wertvorstellungen führt.
Der Begriff der "verfassungsmäßigen Ordnung" ist im Hinblick auf den weiten Schutzbereich des Grundrechts seinerseits weit zu interpretieren. Verfassungsmäßige Ordnung i.S.d. Art. 2 I GG ist die verfassungsmäßige Rechtsordnung, d.h. die Gesamtheit der formell und materiell mit der Verfassung übereinstimmenden Rechtsnormen. [5] Die strafrechtliche Verurteilung ist also dann durch die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung gerechtfertigt, wenn sie sich auf eine verfassungsmäßige Rechtsvorschrift stützen lässt. Voraussetzung ist damit allerdings nicht nur, dass die einschlägigen Vorschriften des BtMG verfassungsmäßig sind, sondern auch, dass sie in verfassungsmäßiger Weise, d.h. insbes. unter Beachtung der sog. Schranken-Schranken angewandt worden sind.
a) Verfassungsmäßigkeit des § 29 BtMG als gesetzlicher Grundlage der Bestrafung
[Verfassungsmäßigkeit der Anwendung des § 29]
Hinsichtlich der formellen Verfassungsmäßigkeit des § 29 BtMG erheben sich mangels entgegenstehender Anhaltspunkte keine Zweifel. § 29 I Nr. 1 und 3 BtMG könnten aber materiell verfassungswidrig sein, denn sie stellen allgemein jeglichen unerlaubten Erwerb und Besitz von Drogen unter Strafe und sehen selbst bei geringen, ausschließlich zum Eigenkonsum bestimmten Mengen der vergleichsweise weniger gefährlichen Cannabis-Produkte keine Ausnahme vor. Dieses könnte einen übermäßigen Eingriff darstellen, der gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verstößt. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss jeder Eingriff in ein Grundrecht geeignet und erforderlich sein, um einen erstrebten verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Zweck zu erreichen. Außerdem darf er den Betroffenen nicht unangemessen belasten (Übermaßverbot oder Verhältnismäßigkeit i.e.S.).
aa) Verfolgung eines verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Zweckes: (+)
· Schutz der Gesundheit sowohl der Bevölkerung im ganzen als auch des einzelnen (insbes. des Jugendlichen) vor den von Betäubungsmitteln ausgehenden Gefahren (insbes. der Drogenabhängigkeit); außerdem Leistung eines dt. Beitrags zur internationalen Kontrolle der Suchtstoffe und psychotropen Stoffe, einem gemeinsamen Anliegen der in den Vereinten Nationen zusammengeschlossenen Staatengemeinschaft [6]
bb) Geeignetheit des strafbewehrten Erwerbs- und Besitzverbotes zur Verfolgung dieses Zweckes: (+)
· beachte: Hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit eines Mittels und hinsichtlich der Gefahren, die mit diesem Mittel abgewehrt werden sollen, hat der Gesetzgeber einen Beurteilungsspielraum. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle ist hier begrenzt. Sie bemisst sich nach den Eigenarten des jeweiligen Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein sicheres Urteil zu bilden und den betr. Rechtsgütern. Bei schwierigen oder wiss. umstrittenen Sachfragen ist sie i.d.R. darauf beschränkt, ob die vom Gesetzgeber zugrunde gelegten Einschätzungen vertretbar sind.
· Cannabis ist gefährlich, auch wenn es nicht körperlich süchtig macht (z.B. Gefahr psychischer Abhängigkeit oder des Umsteigens auf härtere Drogen). Siehe dazu die eingehenden, sehr aufschlussreichen Ausführungen des BVerfG [7] , die sich teilweise wie ein wiss. Fachbuch zur Cannabis-Pflanze und zur Drogenproblematik lesen! Dort finden sich auch Informationen zu den verschiedenen Drogen, die aus der Cannabis-Pflanze gewonnen werden, zur Geschichte des Cannabis-Konsums, zu den verbreiteten Arten der Drogenaufnahme, den Wirkstoffen und den Folgen der Drogen. Die Ausführungen gehen an dieser Stelle allerdings z.T. erheblich über das Maß der vom BVerfG angekündigten eingeschränkten Überprüfung der gesetzgeberischen Einschätzung hinaus... (Dennoch ist zu bedauern, dass das BVerfG bisher nicht die Gelegenheit wahrgenommen hat, diese Ausführungen in einer "zweiten Auflage" zu aktualisieren und seine Rechtsprechung von 1994 zu verfeinern. [8] )
· beachte: nicht nur das Verbot des Cannabiserwerbes und -besitzes ist ein geeignetes Mittel, sondern ebenfalls seine Durchsetzung mit den Mitteln des Strafrechts
cc) Erforderlichkeit des strafbewehrten Erwerbs- und Besitzverbotes zur Verfolgung dieses Zweckes: (+)
· Problem: kontrollierte Freigabe von Cannabis als geringer belastendes Mittel? - Beispielhaft die hier mit Rücksicht auf den Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers zurückhaltende Kontrolle durch das BVerfG:
"Die
... wiederholt überprüfte und festgehaltene Einschätzung des Gesetzgebers,
die strafbewehrten Verbote gegen den unerlaubten Umfang mit Cannabisprodukten
seien auch erforderlich, um die Ziele des Gesetzes zu erreichen, ist von
Verfassungs wegen jedenfalls nicht zu beanstanden. Auch auf der Grundlage des
heutigen Erkenntnisstandes ... ist die Auffassung des Gesetzgebers vertretbar,
ihm stehe ... kein gleich wirksames, aber weniger eingreifendes Mittel als die
Strafandrohung zur Verfügung. ... Die kriminalpolitische Diskussion darüber,
ob eine Verminderung des Cannabiskonsums eher durch die generalpräventive
Wirkung des Strafrechts oder aber durch die Freigabe von Cannabis und eine
davon erhoffte Trennung der Drogenmärkte erreicht wird, ist noch nicht
abgeschlossen. Wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse, die zwingend für die
Richtigkeit des einen oder anderen Weges sprächen, liegen nicht vor..."
[9]
dd) Angemessenheit (= Verhältnismäßigkeit i.e.S.) des strafbewehrten Erwerbs- und Besitzverbotes zur Verfolgung dieses Zweckes
a) Angemessenheit des Verbotes selbst: (+)
· auch hinsichtlich kleiner Mengen zum Eigenverbrauch
b) Angemessenheit seiner Durchsetzung mit den Mitteln des Strafrechts
Zweifelhaft ist jedoch, ob es mit dem Übermaßverbot vereinbar ist, dass dass § 29 BtMG schon den bloßen Erwerb u. Besitz kleinster zum Eigenverbrauch bestimmter Mengen von Cannabis-Produkten unter Strafe stellt, denn schließlich werden in diesen Fällen Gefährlichkeit und individuelle Schuld häufig von geringem Ausmaß sein.
· BVerfG: Strafandrohung ist auch hier angemessen. Ggf. erlauben die Vorschriften, die den Strafverfolgungsorganen im Einzelfall das Absehen von Strafe ermöglichen (hier also § 29 V BtMG), die notwendige Korrektur
"Auch
der unerlaubte Erwerb und der unerlaubte Besitz gefährden fremde Rechtsgüter
schon insofern, als sie die Möglichkeit einer unkontrollierten Weitergabe der
Droge an Dritte eröffnen. Die Gefahr einer solchen Weitergabe besteht selbst
dann, wenn der Erwerb und der Besitz der Droge nach der Vorstellung des
Täters nur den Eigenverbrauch vorbereiten sollen. Hinzu kommt, dass sich
gerade im Erwerb und Zwecke des Eigenverbrauchs die Nachfrage nach der Droge
verwirklicht, die den illegalen Drogenmarkt von der Nachfrageseite her
konstituiert. ... Unter generalpräventiven Gesichtspunkten ist es danach vor
dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot gerechtfertigt, auch den
unerlaubten Erwerb und Besitz von Cannabisprodukten zum Eigenverbrauch
allgemein als strafwürdiges und strafbedürftiges Unrecht mit Kriminalstrafe
zu bedrohen.
Allerdings
kann gerade in diesen Fällen das Maß der von der einzelnen Tat ausgehenden
Rechtsgütergefährdung und der individuellen Schuld gering sein. ...
Beschränkt sich der Erwerb oder der Besitz von Cannabisprodukten auf kleine
Mengen zum gelegentlichen Eigenverbrauch, so ist im allgemeinen auch die
konkrete Gefahr einer Weitergabe der Droge an Dritte nicht sehr erheblich.
Entsprechend gering ist in aller Regel das öffentliche Interesse an einer
Bestrafung. ... Auch unter Berücksichtigung solcher Fallgestaltungen
verstößt die generelle ‑ generalpräventiv begründete -
Strafandrohung ... indessen nicht gegen das verfassungsrechtliche
Übermaßverbot. Diesem hat der Gesetzgeber dadurch genügt, dass er es den
Strafverfolgungsorganen ermöglicht, im Einzelfall durch das Absehen von
Strafe oder Strafverfolgung einem geringen individuellen Unrechts- und
Schuldgehalt der Tat Rechnung zu tragen. ... Die Entscheidung des
Gesetzgebers, einem geringen Unrechts- und Schuldgehalt bestimmter Taten
vorwiegend durch eine Einschränkung des Verfolgungszwanges Rechnung zu
tragen, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dem Gesetzgeber bieten
sich zwei Wege an...: Er kann ... den Anwendungsbereich der allgemeinen
Strafvorschrift einschränken oder spezielle Sanktionen für Fälle der
Bagatellkriminalität ermöglichen (materiell-rechtliche Lösung). Er kann
aber auch den Verfolgungszwang begrenzen und auflockern (prozessuale Lösung).
Das verfassungsrechtliche Übermaßverbot gestattet prinzipiell beide
Lösungen..."
[10]
· Verfassungsrichter SOMMER in seinem abweichenden Votum [11] : Strafandrohung nicht mehr mit dem Übermaßverbot vereinbar. Gesetzgeber muss materiell-rechtliche Lösung finden, beispielsweise einen zwingenden Strafausschließungsgrund vorsehen oder die Strafbarkeit in Gestalt einer obj. Strafbarkeitsbedingung vom Überschreiten einer Mindestmenge abhängig machen. Bereits in der Androhung, nicht erst in der Verhängung von Strafe liegt ein schwerer Eingriff, denn sie bringt den Vorwurf zum Ausdruck, der Täter habe elementare Werte des Gemeinschaftslebens verletzt. Prozessuale Lösung verstößt im Übrigen gegen Art. 103 II GG ("nulla poena sine lege"), der es nicht erlaubt, dass der Gesetzgeber den Strafverfolgungsorganen das Absehen von Strafe oder Strafverfolgung in einem so hohen Ausmaß ermöglicht, dass diese Praktiken zu einer faktischen Neudefinition des Straftatbestandes führen.
· Stellungnahme: - Argumentieren! - (im Fortgang dieser Fall-Lösung wird allein aus didakt. Gründen der Ansicht des BVerfG gefolgt)
In Anbetracht der Möglichkeit, ggf. nach Absatz 5 von Strafe abzusehen, erfüllt § 29 BtMG also auch insofern die Anforderungen der Angemessenheit, als er selbst den Erwerb und Besitz geringer und zum Eigenkonsum gedachter Mengen von Cannabis-Produkten mit Strafe bedroht.
§ 29 BtMG bildet eine verfassungsmäßige gesetzliche Grundlage der Bestrafung der Maria Juana.
b) Verfassungsmäßigkeit der Anwendung des § 29 BtMG
[Verfassungsmäßigkeit des § 29 als Grundlage]
Diese verfassungsmäßige gesetzliche Grundlage müsste im Falle der Maria Juana aber auch im Einklang mit der Verfassung - d.h. insbes. unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips - angewandt worden sein. Hier bestehen indessen Zweifel an der Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit i.e.S.) der strafrechtlichen Verurteilung im konkreten Fall, denn Maria Juana hatte nur geringe Mengen von Cannabis-Kraut bei sich gehabt, die ausschließlich zum eigenen Gebrauch bestimmt waren, und in diesem Fall hätte das Strafgericht möglicherweise von der Möglichkeit, gemäß § 29 V BtMG von Strafe abzusehen, Gebrauch machen müssen.
Berücksichtigt man die einzelnen Umstände der Tat der Maria Juana, so überwiegen letztlich deutlich die Anzeichen, die auf eine sehr geringe Gefährlichkeit und individuelle Schuld schließen lassen. So hatte Maria Juana das Kraut nicht etwa in der Öffentlichkeit mit sich getragen, sondern in ihrer Wohnung aufbewahrt und durch besondere Vorkehrungen (insbes. das Verstecken in einer Gewürzdose) sichergestellt, dass es auch für Besucher nicht frei zugänglich war. Außerdem hatte Maria Juana die weiche Droge nicht in Gegenwart Dritter, sondern allein zu sich genommen und damit verhindert, dass ihr eigener Cannabis-Konsum andere Personen dazu verleiten konnte, gleiches zu tun. Schließlich hatte sich deutlich gezeigt, welches beschränkte Störungspotential in ihrem Cannabis-Besitz lag, als sie - anders als die alkoholisierten Teilnehmer des "Schluckspecht-Festes" - trotz ihres Drogengenusses keine Mitbewohner störte und im Gegenteil sogar noch die Polizei herbeirief, um von anderen verursachte Störungen abzuwehren. Angesichts dieser Umstände war es für das Strafgericht unter dem Gesichtspunkt des Übermaßverbotes in keinem Fall vertretbar, nicht gemäß § 29 V BtMG von Strafe abzusehen. Ihre Verurteilung ist unangemessen und verletzt damit das Verhältnismäßigkeitsprinzip.
Der Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit der Maria Juana lässt sich nicht auf § 29 BtMG stützen und ist daher nicht aufgrund der Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
Maria Juana ist in ihrem Grundrecht aus Art. 2 I GG verletzt.
Eine Verfassungsbeschwerde wäre nicht nur zulässig, sondern auch begründet.
Mary Jane wird ihrer Freundin antworten, dass ihr das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe durch Aufhebung des Strafurteils (vgl. § 95 II BVerfGG) weiterhelfen kann, wenn sie nach Erschöpfung des Rechtsweges Verfassungsbeschwerde erhebt.
Zum Cannabis-Beschluss des BVerfG siehe auch die abweichenden Meinungen der Richter Graßhof (BVerfGE 90, 199 ff.) und Sommer (BVerfGE 90, 212 ff.) sowie die Anmerkungen von Gusy, JZ 1994, 863, Nelles/Velten, NStZ 1994, 366; Staechelin, JA 1994, 245; Schneider, StrVert 1994, 390; ferner Schmitz, ERPL/REDP 7 (1995), 1125 (1132 ff.). Das Bundesverfassungsgericht hat weitere Verfassungsbeschwerden zu dieser Thematik bisher nicht angenommen und insbes. den Begriff der geringen Menge zum Eigenverbrauch in keiner Senatsentscheidung konkretisiert. Die Praxis (auch zum Absehen von der Strafverfolgung nach § 31a BtMG) variiert je nach Zeit und Land.
Zum allgemeinen Gleichheitssatz siehe heute Blome, JA 2011, 486; Albers, JuS 2008, 945; Pieroth/Schlink, a.a.O., Rdnr. 459 ff.; Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 11. Aufl. 2011, Art. 3 Rdnr. 1 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 3 Rdnr. 1 ff. - Zur allgemeinen Handlungsfreiheit siehe Kloepfer, a.a.O., § 56 Rdnr. 3 ff.; Jarass/Pieroth, a.a.O., Art. 2 Rdnr. 2 ff.; Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.9, Grundgesetz. Kommentar, 6. Aufl. 2012, Art. 2 Rdnr. 3 ff.; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfau, Grundgesetz, 12. Aufl. 2011, Art. 2 Rdnr. 22 ff.; Lege, Jura 2002, 753
Zur Verfassungsbeschwerde siehe Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, S. 128 ff.; Schmidt, Verfassungsprozessrecht, 2010, S. 122 ff.; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, § 19.
Für
Fragen, Anregungen und Kritik bin ich unter der E-Mail-Adresse
tschmit1@gwdg.de erreichbar.
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[1] BVerfGE 90, 145 (196 f.).
[2] BVerfGE 55, 72 (88); 81, 205; 82, 60 (86); 88, 5 (12); 88, 87 (96 f.); 89, 365 (375); 91, 389 (491), 93, 386 (397); 97, 332 (344); 110, 274 (291); 126, 29 (47). Beachte die Ähnlichkeit dieser Kriterien mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, das jedoch nicht etwa als solches in die Gleichheitsdogmatik übernommen wird; siehe dazu auch Sachs, JuS 1997, 124 ff.; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II. Grundrechte, 27. Aufl. 2011, Rdnr. 470 ff.; Obendahl, JA 2000, 170 ff.
[3] BVerfGE 90, 145 (197).
[4] Siehe dazu bereits Fall 5 aus der Vorlesung STAATSRECHT II von Prof. Starck aus dem SS 1999; das BVerfG vertritt diese Ansicht bereits seit BVerfGE 6, 32 (36).
[5] Ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 6, 32 (41).
[6] Vgl. BVerfGE 90, 145 (174 ff.).
[7] BVerfGE 90, 145 (177 ff.).
[8] An Gelegenheiten in Form von Verfassungsbeschwerden hat es nicht gefehlt. Diese wurden jedoch durch Kammerentscheidungen nach § 93b BVerfGG abgewiesen, vgl. etwa BVerfG, NJW 1995, 3112; NJW 2000, 3126; NJW 2003, 2978.
[9] BVerfGE 90, 145 (182 f.).
[10] BVerfGE 90, 145 (187 ff.).
[11] Sommer, BVerfGE 90, 212 ff.
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