01.03.01 |
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1.
A. Die
Weltordnung des 20. Jahrhunderts, an die das 21. anknüpft, beruht auf einem
fundamentalen formalen Ordnungsprinzip, das die gesamte Erde überzieht und
nirgendwo ernsthaft in Frage gestellt wird: dem Prinzip der
Territorialstaatlichkeit. Die Menschheit bildet keine Einheit, sondern
unterteilt sich in ca. 200 Einzelgemeinschaften (Völker), die jeweils
politisch und rechtlich anerkannte und von niemandem abhängige (souveräne)
Herrschaftsverbände (Staaten) bilden. Diesen ist jeweils ein abgegrenzter
Teil der Erdoberfläche (Staatsgebiet) zugeordnet, der ausschließlich ihrer
Herrschaftsmacht (Staatsgewalt) unterfällt, auf den sich ihre
Herrschaftsmacht allerdings auch im wesentlichen beschränkt. Herrschaft kraft
übergeordneten Rechts (Hoheitsgewalt/öffentliche Gewalt) bedeutet in dieser
Ordnung primär die Herrschaft des souveränen territorialen
Herrschaftsverbandes über sein Territorium, also des Staates über sein
Staatsgebiet. Andere Machtträger können eine souveräne, d.h. von niemandem
abgeleitete und abhängige Hoheitsgewalt nicht erlangen.
2.
Jeder Staat kann sich frei organisieren und
ist bei der Ausübung seiner Hoheitsgewalt über sein Territorium nur
geringfügigen völkerrechtlichen Bindungen unterworfen. Jede der ca. 200
Einzelgemeinschaften, aus denen sich die Menschheit zusammensetzt, kann sich
von ihren eigenen politischen und weltanschaulichen Ideen leiten lassen und
auf dem Hoheitsgebiet ihres Herrschaftsverbandes entsprechend ihrer eigenen
kulturellen Prägung ihre eigene staatliche Ordnung verwirklichen (Selbstbestimmungsrecht).
Das kann es auch mit sich bringen, daß sich Menschen, die mit der bestehenden
Anordnung nicht oder nicht mehr einverstanden sind, zu einer neuen
selbständigen Einzelgemeinschaft (einem neuen Volk) zusammenschließen und
einen neuen souveränen Herrschaftsverband errichten. Die Weltordnung der
Staaten gibt die Unterteilung der Erde in Staaten vor, nicht aber deren Zahl
oder konkrete Identität.
[1]
3.
Die weitaus meisten Staaten verstehen sich
als Nationalstaat, d.h. als Herrschaftsverband einer nach historischen,
ethnischen, kulturellen oder sprachlichen Kriterien in sich homogenen und nach
außen unterscheidbaren Einzelgemeinschaft, einer Nation. Das Fundament ihres
Selbstverständnisses bildet eine seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert
einflußreiche politische Doktrin, die Lehre von der Nation. Das mit Hilfe
dieser Lehre staatstheoretisch begründete Prinzip der Nationalstaatsbildung
hat die Weltordnung des 20. Jahrhunderts ebenso nachhaltig geprägt wie das
Prinzip der Territorialstaatlichkeit.
[2]
Deswegen kann diese als eine Weltordnung der Nationalstaaten bezeichnet
werden. Kennzeichnend für sie war neben der Gliederung der Erde in
Nationalstaaten über viele Jahrzehnte hinweg ein nationalstaatlich
orientiertes Denken, bei dem der einzelne Nationalstaat einseitig im
Mittelpunkt von Recht, Politik und Wissenschaft stand und sich eine
verantwortliche Zusammenarbeit mit anderen Nationalstaaten nur schleppend
entwickelte. Bei näherer Betrachtung hat man es hier allerdings mit einem
Konglomerat dreier Denkweisen zu tun, die historisch zusammengetroffen sind,
aber nicht notwendigerweise in dieser Form hätten zusammentreffen müssen,
nämlich eines nationenbezogenen, eines staatszentrierten und eines
einzelstaatsbezogenen Denkens.
[3]
4.
In den Jahrzehnten nach dem Zweiten
Weltkrieg geriet die Weltordnung der Nationalstaaten in Umbruch. Es traten
neue Gefahren und Aufgabenstellungen hervor, die im nationalen Alleingang
nicht zu bewältigen waren. Die Herausforderungen haben sich kontinuierlich
verschärft. Sie lassen heute immer deutlicher das Bild einer Globalisierung
und Georegionalisierung der Sachprobleme sowie eines immer stärker und
auf immer mehr Gebieten überforderten Nationalstaates erkennen.
[4]
5.
Zunächst war die Vorstellung verbreitet,
die Antwort auf dieser Herausforderungen könne nur in der Schaffung eines
großen (west-) europäischen Bundesstaates nach amerikanischem Vorbild, den
„Vereinigten Staaten von Europa“ liegen. Doch schließlich suchten die
westeuropäischen Nationalstaaten andere Wege. Sie verstärkten die
Zusammenarbeit über völkerrechtliche Verträge und internationale
Organisationen. Und sie gründeten supranationale Institutionen, d.h.
völkerrechtliche Einrichtungen, denen eigene Hoheitsrechte eingeräumt sind,
die sich also durch einen unmittelbaren hoheitlichen Durchgriff auf Bürger
und Behörden in den angeschlossenen Staaten auszeichnen. Schon diese
Entwicklung war mit dem überkommenen nationalstaatlichen Denken kaum noch zu
vereinbaren. Drei zusammengehörige supranationale Organisationen, die
Europäischen Gemeinschaften, sollten überdies der allgemeinen Integration
ihrer Mitgliedstaaten dienen. Sie wurden mehrfach reformiert und schließlich
mit dem Vertrag von Maastricht, um zwei „Säulen“ einer
intergouvernementalen Kooperation ergänzt, in die Europäische Union
umgewandelt.
[5]
6.
B. Diese
Europäische Union bildet das vorläufige Ergebnis eines fortdauernden
Einigungsprozesses ohne historische Vorbilder. Viele historische
Verbände weisen Parallelen auf, aber auch entscheidende Unterschiede. Vom
Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, zu dem im institutionellen Bereich
einige überraschende Ähnlichkeiten bestehen, unterscheidet sich die Union
dadurch, daß ihre ebenfalls komplizierte Konstruktion auf einem
vernunftsmäßigen Konzept beruht und daher einer logisch-systematischen
Aufarbeitung mit den Mitteln des juristischen Denkens noch zugänglich ist.
Der supranationale Herrschaftsverband Europäische Union ist eine europäische
Eigenentwicklung unserer Zeit, die große Innovation in der europäischen
Geschichte des 20. Jahrhunderts.
[6]
7.
Die Schwierigkeiten, jenes merkwürdige
Gebilde, das seine endgültige Gestalt offenbar noch nicht gefunden hat,
anhand der überkommenen Leitbilder aus Völkerrecht, Staatsrecht und
Staatslehre zu erklären, haben in der politischen wie wissenschaftlichen
Diskussion Unsicherheit und Verwirrung hervorgerufen. Es fehlt bereits an
einem eingeführten Gattungsbegriff. In der Literatur finden sich zahlreiche,
meist vage Umschreibungen. Besonders verbreitet sind der vom
Bundesverfassungsgericht aufgenommene Begriff des „Staatenverbundes“ sowie
die Bezeichnungen als Organisation „sui generis“, „Staatengemeinschaft“,
„supranationale Gemeinschaft“ und „supranationale Union“. In dieser
Arbeit wird der Gattungsbegriff Supranationale Union zugrundegelegt,
denn er verweist sowohl auf den Ursprung in einer supranationalen Organisation
(der EGKS) als auch auf das besonders enge Verhältnis der beteiligten
Staaten, ist aber noch nicht durch den Sprachgebrauch zu den drei
europäischen Gemeinschaften besetzt und läßt sich ohne Gefahr von
Verfälschungen in andere Sprachen übersetzen.
[7]
8.
Das Fehlen einer eingeführten
Begrifflichkeit ist ein Symptom für die mangelnde Klarheit über grundlegende
institutionelle, strukturelle und rechtliche Zusammenhänge. Schon über die
Konstruktion der Europäischen Union gehen die Meinungen auseinander. Dasselbe
gilt für die Frage nach ihrer Rechtsnatur und völkerrechtlichen
Rechtspersönlichkeit. Schließlich sind viele Grundlagenfragen offen, etwa
zur Realisierbarkeit von Demokratie in der Union, zur Souveränität der
Mitgliedstaaten, zum Rangverhältnis zwischen supranationalem und nationalem
Recht und zur Letztentscheidung in Kompetenzkonflikten. Die Dynamik des
europäischen Integrationsverbandes, seine unübersichtliche Struktur und die
Zersplitterung seiner rechtlichen Grundlagen erschweren die Antwort erheblich.
[8]
9.
Außerdem beeinträchtigen Tendenzen zur
einseitigen oder verzerrten Problemwahrnehmung das Verständnis der Union.
Problemzusammenhänge werden infolge einer vorschnellen Orientierung an den
hergebrachten, der Allgemeinen Staatslehre entnommenen Erklärungsmustern
leicht verkannt oder an falscher Stelle vermutet. Bei Konflikten des
nationalen mit dem supranationalen Recht ist die Versuchung groß, das Problem
als zweiseitiges Spannungsverhältnis aufzufassen und dabei auszublenden, daß
an der Union vierzehn weitere Staaten beteiligt sind und eine Problemlösung,
die auf die Bedürfnisse des einen Mitgliedstaates zugeschnitten wäre, mit
großer Wahrscheinlichkeit neue Probleme in anderen Mitgliedstaaten entstehen
ließe. Weitere Defizite ergeben sich daraus, daß die wissenschaftliche
Diskussion vorwiegend in getrennten Zirkeln stattfindet ‑ getrennt
nicht nur nach den Staaten oder Sprachräumen, sondern auch nach den
wissenschaftlichen Disziplinen (Rechtswissenschaft, Soziologie,
Politikwissenschaft) und häufig sogar den Teildisziplinen (Europarecht,
Staatsrecht/Allgemeine Staatslehre, Völkerrecht).
[9]
10.
C. Hoheitliche
Herrschaft hat sich in einem Maße vertikal ausdifferenziert ‑ spezialisiert,
abgestuft, verschränkt ‑, das in der alten nationalstaatlichen
Ordnung undenkbar gewesen wäre. Es gibt heute mehr Ebenen, mehr Typen, mehr
Verflechtungen öffentlicher Gewalt. Das wirft grundsätzliche Fragen auf,
nämlich ob es sich um getrennte öffentliche Gewalten handelt oder um
Teile einer einzigen öffentlichen Gewalt, die zusammen ein System bilden, ob
dieses ggf. um einen archimedischen Punkt herum aufgebaut ist, auf welcher
Ebene dieser angesiedelt ist, ob er sich verlagern kann und welche
Konsequenzen sich daraus für das Verhältnis von nationalem Recht,
Unionsrecht und Völkerrecht ergeben. Das führt auch zu der elementaren
Frage, welche Bedeutung dem Staat heute noch zukommt. Seine zunehmende
Einbindung in internationale und supranationale Strukturen hat seine Rolle
verändert. Offene Staatsgrenzen, grenzüberschreitende Mobilität,
abgestimmte Regierungspolitiken und zusammengeschlossene Wirtschaftsräume
lassen seine Konturen unscharf werden. Bei der Diskussion um eine
Neubestimmung seiner Position steht immer wieder der Begriff der
Souveränität im Mittelpunkt.
[10]
11.
D. Der
Umbruch der Weltordnung der Nationalstaaten, die Verfestigung einer
supranationalen Größenordnung in Europa, die Ausdifferenzierung der
öffentlichen Gewalt und der Wandel der Rolle des Staates haben in den
neunziger Jahren vermehrt zum Ruf nach Schutz und Wiederbelebung des
Nationalstaates geführt. Die Sorge, die sich darin äußert, gilt weniger dem
Nationalstaat selbst als seinem ideengeschichtlichen Erbe außerhalb der
Nationalstaatsidee, nämlich der weiteren umfassenden Verwirklichung jener
philosophischen und politisch-philosophischen, tief in der westlichen
Allgemeinen Staatslehre verwurzelten, systemprägenden Leitideen, welche die Grundwerte
und (sonstigen) Leitideen des heutigen modernen Staates ausmachen.
Die verfassungs- und einfachrechtlichen Institutionen, die der Nationalstaat
zu ihrer Umsetzung und Sicherung entwickelt hatte, haben an Wirksamkeit
eingebüßt oder laufen Gefahr, umgangen zu werden. Vorkehrungen im
supranationalen Recht haben nicht überall das Vertrauen geweckt, daß sie
dies ausgleichen können.
[11]
12.
Im Vordergrund steht die Sorge um die Demokratie,
ausgelöst durch den Einflußverlust des einzelnen Staatsvolkes und die
Entparlamentarisierung und Gouvernementalisierung des Gesamtsystems. Daneben
tritt die Sorge um die Grundrechte, ausgelöst durch den
Bedeutungsverlust der in der Supranationalität verdrängten Grundrechte und
Schutzmechanismen der nationalen Verfassungen, und um die Rechtsstaatlichkeit,
hervorgerufen durch eine einseitig gemeinschaftsfreundliche Anwendung der
Kompetenzvorschriften durch den Europäischen Gerichtshof und verschärft
durch die Androhung einer vertragswidrigen nationalgerichtlichen
Letztkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht. Die Sorge um die Sozialstaatlichkeit
ist eher ein politisches Problem, denn eine Gefährdung der
Sozialstaatlichkeit als staatstheoretischer Grundwert ist mit den
Veränderungen, die Binnenmarkt, Wettbewerb und Teilnahme an der
Währungsunion mit sich bringen, noch nicht in Sicht. Die Sorge um die Bundesstaatlichkeit
äußert sich vor allem in den Warnungen vor einer Aushöhlung der
Länderkompetenzen. Seitdem die Länder ihre Interessen über Kontakte
hochrangiger Politiker, eigene Vertretungen in Brüssel und den Ausschuß der
Regionen selbst bei der Union zur Sprache bringen, warnen allerdings auch
kritische Stimmen vor einer Schwächung der Bundesebene, stellt diese
Entwicklung doch das Monopol der Bundesregierung für die Vertretung deutscher
Interessen in Frage. In manchen Einheitsstaaten haben ähnliche Entwicklungen
zu einer Sorge um die Einheitsstaatlichkeit geführt. Eine Sorge um die
nationale und regionale Identität zeigt sich schließlich in den
Warnungen vor einem drohenden Verlust der nationalen Staatlichkeit, im
Widerstand gegen die Nivellierung kultureller Unterschiede und in den Bedenken
gegen die Verdrängung und Überlagerung rechtstaatlicher Grundsätze und
Rechtsinstitute des nationalen Verwaltungsrechts durch solche des Unionsrechts
(Europäisierung des Verwaltungsrechts).
[12]
- Wenn die europäische Integration nicht auf Dauer an Akzeptanz verlieren
soll, muß diese Sorge um die Grundwerte und Grundstrukturen in der
politischen Gemeinschaft durch überzeugende Lösungen ausgeräumt werden.
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[1]
1-A.I.1.
[2]
1-A.I.1.
[3]
1-A.I.2.
[4]
1-A.II
[5]
1-A.III
[6]
1-B.II
[7] 1-B.III.1; französisch: Union supranationale, englisch: Supranational Union.
[8] 1-B.III.2.
[9] 1-B.III.3.
[10]
1-C
[11]
1-D
[12]
1-D.I-VI.
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]