Chronik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - 1998 (1)

01.10.05

(= ERPL/REDP 11 [1999], S. 1715 ff.)

[ Chronik-Startseite ] Home ] 1990-93 ] 1994-1 ] 1994-2 ] 1995-1 ] 1995-2 ] 1996-1 ] 1996-2 ] 1997-1 ] 1997-2 ] [ 1998-1 ] 1998-2 ] 1999/2000-1 ] 1999/2000-2 ] 2001/02-1 ] 2001/02-2 ] 2003 ] Zusammenfassungen ] [ Download ] [ Grundgesetz-Text ]    

I. Vorbemerkung

[II. Grundrechte] [III. Regelungsbefugnis des Staates und Gesetzesvorbehalt (1998-2)] [IV. Bundesstaatliche Kompetenzordnung (1998-2)] [V. Deutschland in der EU (1998-2)]

Das Bundesverfassungsgericht hat 1998 fast exakt dasselbe Arbeitspensum wie im Vorjahr bewältigt. Die Gesamtstatistik für das Geschäftsjahr 1998 weist 4.999 Erledigungen (darunter 4.588 durch Entscheidung) aus, denen 4.783 neue Verfahren gegenüberstehen.[1] Die Zahl der insgesamt durch Entscheidung erledigten Verfahren hat jetzt mit 101.118[2] die Einhunderttausender-Grenze überschritten, eine historische Zahl, die kaum von einem anderen Verfassungsgericht erreicht worden sein dürfte. Die Verfassungsbeschwerden standen in diesem Jahr mit 4.509 Entscheidungen[3] im Vordergrund. Ihnen folgten 24 Entscheidungen in Verfahren der konkreten, das heißt durch Richtervorlage eingeleiteten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG. Die Bestrebungen zur Reform der Verfassungsbeschwerde[4] halten an, sind aber bedingt durch den Regierungswechsel im Herbst 1998 noch nicht weiter fortgeschritten.

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts[5] hat 1998 weniger Aufsehen erregt und war dogmatisch weniger ergiebig als in den vergangenen Jahren. Zumeist wurde lediglich die vorhandene Dogmatik verfestigt oder geringfügig vertieft oder auch nur konsequent auf neue Fragestellungen angewandt. Allerdings lassen diese Fragestellungen einige der Entscheidungen interessant erscheinen. So etwa im Falle der Rechtschreibreform, wo sich das Bundesverfassungsgericht damit auseinandersetzen mußte, ob der Staat verändernd auf die deutsche Rechtschreibung einwirken darf und ob für die Einführung neuer Rechtschreibregeln an den Schulen ein Gesetz erforderlich ist. Oder im Falle der Kurzberichterstattung im Fernsehen über bedeutende öffentliche Veranstaltungen (wie z.B. Fußballspiele), wo das Gericht zu prüfen hatte, inwieweit es einem kommerziellen Veranstalter, der zur Gewinnerzielung exklusive Senderechte vergeben will, zugemutet werden kann, allen Fernsehsendern eine kurze zusammenfassende Bild-Berichterstattung von seiner Veranstaltung zu ermöglichen. Hervorzuheben ist schließlich auch auch das Urteil zum Bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetz, das einen bayerischen Sonderweg im Kampf gegen die Abtreibung stoppte.

II. Grundrechte

[I. Vorbemerkung] [III. Regelungsbefugnis des Staates und Gesetzesvorbehalt (1998-2)] [IV. Bundesstaatliche Kompetenzordnung (1998-2)] [V. Deutschland in der EU (1998-2)]

1) Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG)

[1995] [1996]

In einem Beschluß vom 10. März 1998[6] entschied das Bundesverfassungsgericht, daß der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) einer Staffelung von Kindergartengebühren nach der Höhe des Familieneinkommens grundsätzlich nicht entgegensteht. Art. 3 Abs. 1 verbietet es, wesentlich Gleiches willkürlich ungleich oder wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln (Willkürverbot). Er fordert für jede Differenzierung einen vernünftigen, sachlich einleuchtenden Grund.[7] Zwischen ungleich behandelten Personengruppen müssen Unterschiede von solcher Art und von solchem Gewicht bestehen, daß sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen können (sogenannte „neue Formel“)[8]. Ein solcher rechtfertigender Grund kann in den unterschiedlichen Einkommensverhältnissen und der daraus resultierenden unterschiedlichen finanziellen Leistungsfähigkeit liegen. Das gilt grundsätzlich auch für öffentliche Abgaben und erklärt etwa die Staffelung der Steuersätze bei der Einkommensteuer. Bei den Gebühren stellt sich jedoch das Problem, daß diese öffentlichen Abgaben anders als die Steuern nicht der allgemeinen Finanzierung der öffentlichen Hand dienen, sondern dem Bürger als Gegenleistung für eine konkrete Leistung wie im vorliegenden Falle die Betreuung seiner Kinder in einem kommunalen Kindergarten auferlegt werden. Gebühren sind dazu bestimmt, in Anknüpfung an die empfangene Leistung deren Kosten ganz oder teilweise zu decken. Dennoch kommt, wie das Bundesverfassungsgericht jetzt entschied, auch hier die Höhe des Einkommens als Differenzierungskriterium in Betracht.

Zunächst relativierte das Gericht das Dogma von der Bemessung der Gebührenhöhe nach den Kosten - ein theoretisch und praktisch nicht unbedeutender Schritt, der in der Literatur nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen wird.[9] Danach dürfen Gebühren wegen ihrer Zweckbestimmung zwar nicht völlig unabhängig von den tatsächlichen Kosten der gebührenpflichtigen Leistung festgesetzt werden; das Gericht forderte eine „sachgerechte“ Verknüpfung zwischen Kosten und Gebührenhöhe. Eine an sozialen Gesichtspunkten orientierte Staffelung wird dadurch aber nicht ausgeschlossen. Mit der Gebührenregelung dürfen neben der Kostendeckung auch andere Zwecke verfolgt werden. Zudem steht der Gleichheitssatz weder einer Unterdeckung noch einer Überdeckung der Kosten von vornherein entgegen. Das Kostendeckungsprinzip, ein überkommener zentraler Grundsatz des Gebührenrechts, hat keinen Verfassungsrang.[10] Nach Einkommen gestaffelte Kindergartengebühren sind auch nicht etwa als Steuern anzusehen, deren Regelung und Erhebung den Beschränkungen des bundesstaatlichen Finanzverfassungsrechts unterliegen würde, insbes. von einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG abhängig wäre. Denn auch die gestaffelten Gebühren bleiben schließlich an die individuelle Inanspruchnahme einer staatlichen Einrichtung geknüpft, werden also nicht wie eine Steuer voraussetzungslos geschuldet.[11] Im übrigen betonte das Gericht den weiten Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers bei der Gestaltung des Gebührenrechts, auch was die Wahl der Gebührenmaßstäbe und Gebührensätze betrifft.[12]

Auch die aus dem Gleichheitssatz abgeleiteten Grundsätze der Abgabengerechtigkeit schließen eine Gebührenstaffelung nach dem Einkommen nicht aus. Auf eine allgemeine Bestimmung ihrer Zulässigkeit wollte sich das Bundesverfassungsgericht nicht festlegen. Dafür seien die Gebührentatbestände zu vielgestaltig. Eine Staffelung kommt aber jedenfalls dann in Betracht, wenn  (1.) auch die höchste Gebühr die anteiligen rechnerischen Kosten der Einrichtung nicht übersteigt  und  (2.) die gebührenpflichtige Leistung dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) oder grundrechtlichen Schutz- und Fürsorgepflichten Rechnung trägt und aus verfassungsrechtlichen Gründen jedem zugänglich sein muß, der auf sie angewiesen ist. Dann ist der Staat nämlich nicht etwa darauf beschränkt, zunächst eine für alle gleiche Gebühr zu fordern und anschließend den Bedürftigen finanzielle Hilfen zu gewähren.[13] Einschlägige Belange ließen sich hier problemlos aufzählen, von den sozialstaatlichen Aufgaben der Jugendhilfe und der Herstellung von Chancengleichheit in Bezug auf Lebens- und Bildungsmöglichkeiten  bis hin zum grundrechtlich aufgegebenen besonderen Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG). Bemerkenswert schließlich der Hinweis, daß die (kostengünstige) Verfügbarkeit eines Kindergartenplatzes Frauen darin bestärken kann, eine ungewollte Schwangerschaft nicht abzubrechen, und daher mittelbar auch dem Schutz des ungeborenen Lebens dient, dem der Staat nach Art. 1 Abs. 1 S. 2, 2 Abs. 2 S. 1 GG verpflichtet ist.[14] Die Staffelung der Kindergartengebühren nach dem Familieneinkommen kann also auch als Beitrag des Staates zur Eindämmung der Schwangerschaftsabbrüche verstanden werden und insofern durch einen sachlichen Differenzierungsgrund von hinreichendem Gewicht gerechtfertigt sein.

2) Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG)

[1994] [2001]

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts[15] ist die Rundfunkfreiheit kein gewöhnliches, zur Persönlichkeitsentfaltung eingeräumtes Grundrecht, sondern eine dienende Freiheit, deren Sinn darin besteht, die freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung zu fördern. Sie erschöpft sich daher nicht in der Abwehr staatlicher Einflußnahme auf den Rundfunk, sondern verlangt eine umfassende positive Ordnung des Rundfunkwesens, die eine pluralistische Meinungsbildung sicherstellt.[16] Dieses Verständnis stammt aus der Zeit, als Sendefrequenzen aus technischen Gründen extrem knapp waren und ein Rundfunkveranstalter nahezu zwangsläufig einen erheblichen Einfluß auf die Meinungsbildung hatte (sogenannte Sondersituation des Rundfunks). Angesichts der erweiterten technischen Möglichkeiten wird heute die Frage immer dringlicher, ob es sich auch in Zukunft aufrecht halten läßt. Vor seinem Hintergrund erklärt sich, daß das Bundesverfassungsgericht die in der Literatur umstrittene Frage, wer überhaupt als Grundrechtsträger das Recht geltend machen kann, Rundfunk zu veranstalten,[17] bis heute offen gelassen hat.[18] Das hat auch der Beschluß vom 20. Februar 1998 zur Rundfunkfreiheit privater Rundfunkanbieter und Rundfunklizenz-Bewerber in Bayern [19] nicht geändert. Doch deuten einige Anzeichen darauf hin, daß das Bundesverfassungsgericht künftig die subjektiv-rechtliche Seite der Rundfunkfreiheit stärker in den Vordergrund stellen könnte.

Zunächst betonte das Bundesverfassungsgericht, daß die Rundfunkfreiheit ohne Rücksicht auf eine öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Rechtsform oder auf eine kommerzielle oder gemeinnützige Betätigung jedenfalls allen natürlichen und juristischen Personen zusteht, die bereits Rundfunkprogramme veranstalten.[20] Dabei ist als Veranstalter anzusehen, wer die Struktur des Programmes festlegt, die Abfolge plant, die Sendungen zusammenstellt und unter einer einheitlichen Bezeichnung dem Publikum anbietet. Durch diese auf das gesamte Programm bezogenen Tätigkeiten unterscheidet er sich vom bloßen Zulieferer. Selbst ausstrahlen muß er das Programm hingegen nicht. Das hat Folgen für die privaten Programmanbieter in Bayern, die nach dem dortigen Medienrecht nicht selbst als Rundfunkveranstalter gelten. Da Art. 111a der Bayerischen Verfassung vorschreibt, daß Rundfunk in Bayern nur in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft veranstaltet werden darf, hat der bayerische Gesetzgeber nämlich kurzerhand im Bayerischen Mediengesetz die öffentlich-rechtliche Landesmedienanstalt („Bayerische Landeszentrale für neue Medien“) als den Rundfunkveranstalter der privat organisierten Sendungen benannt. Die Tätigkeit dieser Institution beschränkt sich indessen darauf, die Anbieterverträge zwischen den Privaten und den örtlichen Kabelgesellschaften zu genehmigen und die Einhaltung des vereinbarten Programmschemas sowie der gesetzlichen Programmgrundsätze zu überwachen. Die Landeszentrale bestimmt nicht selbst das Programm und tritt auch nicht nach außen als Programmträger in Erscheinung. Für den Bayerischen Verfassungsgerichtshof waren damit die Anforderungen des Art. 111a der Bayerischen Verfassung gewahrt. Für das Grundgesetz entschied jetzt jedoch das Bundesverfassungsgericht, daß diese rein formale Konstruktion die privaten Anbieter, welche mit der Programmgestaltung in Wirklichkeit die Kernfunktion des Rundfunks wahrnehmen, nicht ihrer Grundrechtsträgerschaft berauben kann. Im Sinne des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG gelten sie also als Rundfunkveranstalter, auch wenn das nach dem bayerischen Landesrecht anders zu beurteilen ist. Damit mußte der Bayerische Verfassungsgerichtshof, der wie jeder andere deutsche Hoheitsträger an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden ist (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG), auch bei der Auslegung und Anwendung der Bayerischen Verfassung der - grundgesetzlichen - Rundfunkfreiheit der privaten Anbieter Rechnung tragen.[21] Zu der naheliegenden Frage, ob Art. 111a der Bayerischen Verfassung überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar ist - selbst die Bayerische Staatsregierung hatte in einer Stellungnahme zum Verfahren jedenfalls eine grundgesetzkonforme großzügige Auslegung für notwendig erachtet - nahm das Bundesverfassungsgericht allerdings nicht Stellung.

Im vorliegenden Fall ging es um die Genehmigung eines nach Zeitablauf erneuerten Anbietervertrages, im untechnischen Sinne also um eine Lizenzverlängerung. Das Bundesverfassungsgericht hob hervor, daß gerade bei der Auswahl der Bewerber die Gefahr der Einflußnahme des Staates auf die im Kern der Grundrechtsgarantie stehende Programmfreiheit besonders groß ist. Dies gilt für die erstmalige Auswahl wie für die Entscheidung über die Lizenzverlängerung. Schon früher hatte das Gericht strenge Anforderungen für die Auswahl formuliert,[22] diese allerdings nur als aus der Rundfunkfreiheit folgende objektiv-rechtliche Pflichten des Gesetzgebers herausgearbeitet. Nunmehr betonte es, daß diese objektiv-rechtlichen Pflichten auch der Sicherung der subjektiv-rechtlichen Position der Rundfunkveranstalter dienen. Ihr Sicherungszweck wäre gefährdet, wenn die Betroffenen keine Möglichkeit hätten, Pflichtverletzungen geltend zu machen. Ebenso, wie sich die bereits zugelassenen Rundfunkveranstalter hinsichtlich der ihnen eingeräumten Rechtsposition auf den Schutz der Rundfunkfreiheit berufen können, müssen daher die Bewerber das Grundrecht hinsichtlich jener verfassungsrechtlich gebotenen Auswahl- und Zulassungsregeln geltend machen können, welche die Rundfunkfreiheit in der Bewerbungssituation sichern.[23] Ein Beschluß des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes, in welchem dieser der Bayerischen Landeszentrale einen weiten Ermessensspielraum bei der Auswahl zugestanden hatte, der mangels weitergehender Rechte der Bewerber erst am Gleichheitssatz und dem darin verankerten Willkürverbot enden sollte,[24] wurde daher aufgehoben.

3) Gleichheit vor dem Gesetz und Schutz der Familie (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. 6 Abs. 1 GG)

[1994] [2001]

a) Der besondere Schutz der Familie, zu dem sich das Grundgesetz in Art. 6 Abs. 1 bekennt, muß sich auch bei der Einkommensteuer niederschlagen. Werden Familien und kinderlose Bürger nach einem einheitlichen Tarif besteuert, muß bei den Familien der Unterhaltsaufwand für die Kinder wenigstens in Höhe des Existenzminimums steuerfrei bleiben. Das hatte das Bundesverfassungsgericht bereits früher entschieden.[25] Unterhaltsaufwendungen für Kinder sind keine steuerrechtlich irrelevanten allgemeinen Kosten der Lebensführung, sondern verringern die für die Besteuerung maßgebliche steuerliche Leistungsfähigkeit der Eltern.[26] Unmittelbarer verfassungsrechtlicher Maßstab ist in diesem Zusammenhang der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Seine Anwendung wird jedoch bestimmt von der Grundsatzentscheidung für den Schutz der Familie sowie von dem Bekenntnis zur Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) und vom Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), welche fordern, daß der Staat dem Steuerpflichtigen zumindest so viel von seinem Einkommen beläßt, als zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein - für sich und seine Familie - benötigt wird.[27] Was das bedeutet, hat das Bundesverfassungsgericht jetzt in drei Entscheidungen vom 10. November 1998 zur Ermittlung des einkommensteuerrechtlichen Existenzminimums von Familien[28] konkretisiert. Danach bildet das, was im Sozialhilferecht als Existenzminimum definiert wird, eine Grenze, welche über- aber nicht unterschritten werden darf. Die Aufwendungen, die für die Existenzsicherung notwendig sind, müssen realitätsgerecht nach dem tatsächlichen Bedarf bemessen werden. Diese Voraussetzungen sind bei den Leistungen der Sozialhilfe, die im Sozialstaat das Existenzminimum gewährleisten sollen, erfüllt. Denn diese werden verbrauchsbezogen festgesetzt und regelmäßig den veränderten Lebensverhältnissen angepaßt. Mindestens das, was der Gesetzgeber dem Bedürftigen zur Befriedigung seines existenznotwendigen Bedarfes aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung stellt, muß er danach dem Einkommensbezieher als steuerfreies Einkommen belassen. Kein Bürger darf infolge der Besteuerung seines Einkommens darauf angewiesen sein, seinen existenznotwendigen Bedarf durch Inanspruchnahme von Staatsleistungen zu sichern.[29]

Das Bundesverfassungsgericht machte weitere Vorgaben. So muß aus Gründen der horizontalen Steuergleichheit, das heißt der Steuergerechtigkeit unter Gleichverdienenden, bei allen Steuerpflichtigen unabhängig von dem nach der Höhe ihres Einkommens einschlägigen Steuersatz das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder in voller Höhe von der Einkommensteuer freigestellt werden.[30] Auch Besserverdienende können also den gesamten existenznotwendigen Unterhaltsaufwand für ihre Kinder als Verminderung ihrer steuerlichen Leistungsfähigkeit geltend machen. Bei der Berechnung des Wohnbedarfs der Familien, der einen wichtigen Teil des Existenzminimums ausmacht, darf nicht wie bei der Sozialhilfe von einer proportionalen Erhöhung mit jeder zusätzlichen Person ausgegangen werden (sogenannte „Pro-Kopf-Methode“), sondern nur der - geringere - spezifische Mehrbedarf zugrunde gelegt werden.[31] Das Bundesverfassungsgericht stellte sogar auf der Grundlage dieser Methode und von der Bundesregierung mitgeteilter Daten sowie einer Sondererhebung des Statistischen Bundesamtes eine eigene Berechnung an. Danach betrug der existenznotwendige Mindestbedarf eines Kindes in der Bundesrepublik im Jahre 1985 DM 3.924[32], im Jahre 1987 DM 4.416[33] und im Jahre 1988 DM 4.572[34].

b) In einem ebenfalls am 10. November 1998 getroffenen Beschluß zur Berücksichtigung des Aufwandes für Kinderbetreuung und Kindererziehung bei der Einkommensteuer [35] entschied das Bundesverfassungsgericht, daß in das steuerfreie Existenzminimum der Familie auch ein Bedarf für die Kinderbetreuung einzurechnen ist. Dabei darf nicht danach unterschieden werden, in welcher Weise dieser Bedarf gedeckt wird. Pflege und Erziehung der Kinder fallen zwar primär in den Verantwortungsbereich der Eltern (vgl. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG), erfolgen aber auch im Interesse der Gemeinschaft und verlangen daher deren Anerkennung.[36] Deswegen muß der durch sie verursachte Aufwand generell als Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit der Eltern berücksichtigt werden. Das Einkommensteuergesetz muß das elterliche Einkommen in dieser Höhe verschonen, und zwar unabhängig davon, ob die Eltern ihr Kind persönlich betreuen oder als Berufstätige fremde Betreuungsleistungen in Anspruch nehmen.[37] Der Staat, mahnte das Bundesverfassungsgericht, hat dafür Sorge zu tragen, daß es den Eltern gleichermaßen möglich ist, teilweise und zeitweise auf eine eigene berufliche Tätigkeit zugunsten der persönlichen Betreuung ihrer Kinder zu verzichten, wie auch Familie und Beruf zu verbinden. Der Staat muß auch Voraussetzungen dafür schaffen, daß die Erfüllung der elterlichen Pflichten nicht zu beruflichen Nachteilen führt, daß eine Rückkehr in die Berufstätigkeit ebenso wie ein Nebeneinander von Erziehung und Beruf für beide Elternteile einschließlich eines beruflichen Aufstiegs während und nach den Zeiten der Kindererziehung möglich ist und daß die Angebote der institutionellen Kinderbetreuung verbessert werden.[38] - Nimmt man diese vom Bundesverfassungsgericht aus der Pflicht des Staates zum Schutz der Familie abgeleiteten verfassungsrechtlichen Anforderungen ernst, kann man nur feststellen, daß die aktuellen Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik weit davon entfernt sind.

Neben dem Betreuungsbedarf vermindert auch der Erziehungsbedarf die steuerliche Leistungsfähigkeit der Eltern. Er umfaßt diejenigen Aufwendungen, die dem Kind die persönliche Entwicklung zur Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit ermöglichen sollen, sei es für die Mitgliedschaft in Vereinen oder für sonstige Formen der Begegnung mit anderen Kindern oder Jugendlichen, für das Erlernen und Erproben moderner Kommunikationstechniken, den Zugang zu Kultur und Sprachen oder die verantwortliche Freizeit- und Feriengestaltung. Nur ein Teil des Erziehungsbedarfes wird schon durch das familiäre Existenzminimum abgedeckt. Für den anderen Teil forderte das Bundesverfassungsgericht indessen keine vollständige Freistellung vom steuerlichen Zugriff in der entsprechenden Höhe, sondern nur eine angemessene einkommensteuerrechtliche Berücksichtigung. Wie schon beim Betreuungsbedarf erfüllte die gegebene gesetzliche Regelung die verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht.[39]

Die Entscheidungsgründe lassen deutlich erkennen, daß die überprüften Bestimmungen den Anforderungen, die sich aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. 6 Abs. 1 GG ergeben, nicht gerecht wurden. Der Tenor der Entscheidung stellt jedoch die Unvereinbarkeit mit Art. 6 Abs. 1 und 2 GG fest. Das erklärt sich daraus, daß die überprüften Bestimmungen die verfassungsrechtlich geforderte Entlastung zwar den verheirateten Eltern vorenthielten, alleinstehenden (unverheirateten) Elternteilen aber zum Teil gewährten, und zwar unter bestimmten Voraussetzungen sogar dann, wenn die unverheirateten Eltern zusammenlebten.[40] Nach Art. 6 Abs. 1 GG steht aber neben der Familie auch die Ehe unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Zudem enthält Art. 6 Abs. 1 GG neben seinen anderen normativen Inhalten ein Diskriminierungsverbot, welches im Verhältnis zum allgemeinen Gleichheitssatz als lex specialis anzusehen ist.[41] Dieses untersagt jede Benachteiligung von Ehegatten gegenüber Ledigen, von Eltern gegenüber Kinderlosen sowie von ehelichen gegenüber anderen Erziehungsgemeinschaften. Es steht jeder belastenden Differenzierung entgegen, die an die Existenz einer Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) oder die Wahrnehmung des Elternrechts in ehelicher Erziehungsgemeinschaft (Art. 6 Abs. 1 und 2 GG) anknüpft. Eine solche liegt auch dann vor, wenn verheiratete Eltern gerade wegen ihrer Ehe oder Familie von bestimmten Steuerentlastungen ausgeschlossen sind.[42]

Die Entscheidung vom 10. November 1998 macht eine grundlegende Umgestaltung des Einkommensteuerrechts erforderlich und könnte sich erheblich auf die Haushaltslage in Bund und Ländern auswirken. Das Bundesverfassungsgericht berücksichtigte das und setzte dem Gesetzgeber großzügige Fristen für eine gegebenenfalls auch stufenweise vorzunehmende Neuregelung.[43] Mit Blick auf die vielkritisierte Kompliziertheit des heutigen deutschen Steuerrechts erinnerte es außerdem daran, daß das rechtsstaatliche Gebot der Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit der Steuerlasten und die Gleichheit im Steuerrecht eine Einfachheit und Klarheit der gesetzlichen Regelungen verlangen, die es auch dem nicht steuerrechtskundigen Bürger ermöglichen, seinen - immerhin strafbewehrten - steuerrechtlichen Erklärungspflichten gerecht zu werden. Das Gericht ließ durchblicken, daß es einen einheitlichen Entlastungstatbestand des Betreuungs- und Erziehungsbedarfes für verfassungsrechtlich möglich und sinnvoll hält, der sämtliche kinderbedingten Minderungen der steuerlichen Leistungsfähigkeit erfassen sollte und so auszugestalten wäre, daß seine Voraussetzungen allein durch die Angabe der personenbezogenen Daten der Familie (Familienstand, Anzahl und Alter der Kinder etc.) dargelegt werden können.[44] - In der politischen Diskussion des Jahres 1999 nahm die Frage, wie man den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus den Entscheidungen vom 10. November 1998 am besten gerecht werden könne, einen bedeutenden Platz ein.

4) Elternrecht, Kindeswohl und Wächteramt des Staates (Art. 6 Abs. 2, 2 Abs. 1 GG)

[1995] [2003]

Ein Beschluß vom 29. Oktober 1998[45] befaßte sich mit dem Problem gegenläufiger grenzüberschreitender Kindesentführungen durch die getrennt lebenden Eltern. Nach dem Scheitern gemischt-nationaler Ehen kommt es immer wieder vor, daß ein Elternteil die gemeinsamen Kinder rechtswidrig in den anderen Staat mitnimmt und auf diese Weise der elterlichen Sorge des anderen sowie dem Zugriff der Behörden und Gerichte ihres ursprünglichen Heimatstaates entzieht. Und es kommt immer wieder vor, daß der andere sie auf ebenso rechtswidrige Weise wieder dorthin zurückentführt. In diesen Fällen müssen dann häufig die Gerichte der verschiedenen Staaten über gegenläufige Rückführungsanträge entscheiden. Das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25. Oktober 1980 (Haager Kindesentführungsübereinkommen [engl./dt.]= HKiEntÜ) sieht nämlich vor, daß bei rechtswidriger Verbringung in einen anderen Staat die dortigen Gerichte oder Behörden die sofortige Rückgabe des Kindes anordnen (Art. 12). Allerdings kann davon abgesehen werden, wenn die Rückführung mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden wäre oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringen würde (Art. 13 lit. b). Welche Leitlinien sich aus dem Grundgesetz für die innerstaatliche Anwendung dieser Regelungen ergeben, hat das Bundesverfassungsgericht jetzt dargelegt. Dabei ging es um einen spektakulären deutsch-französischen Fall, bei dem die Kinder zunächst von der Mutter nach Frankreich und dann im Auftrag des Vaters gewaltsam nach Deutschland entführt worden waren und der eine ganze Reihe deutscher wie französischer Gerichte beschäftigt hat.[46]

Deutsche Gerichte müssen auch bei der Anwendung völkerrechtlicher Verträge die grundrechtlichen Maßstäbe des Grundgesetzes beachten. Bei der Entscheidung über Rückführungsanträge bildet das in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG gewährleistete Recht der Eltern zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder (Elternrecht) einen dieser Maßstäbe. Im Vordergrund steht aber das Wohl des Kindes. Es ist auf zweifache Weise im Grundgesetz verankert: zum einen in Form des Grundrechts des Kindes auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), das der Staat wie jedes andere grundrechtliche Rechtsgut nicht nur achten, sondern auch gegen Gefährdungen schützen muß[47]; zum anderen in der Aufgabe des Staates, über die Betätigung des Elternrechts zu wachen (sogenanntes „Wächteramt des Staates“, Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG). Das Kindeswohl ist die zentrale Leitidee des Art. 6 Abs. 2 GG.[48] Das Elternrecht ist ein dienendes Grundrecht, das die Eltern in diesem Sinne auszuüben haben, und auch der staatliche Schutzauftrag nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG ist darauf ausgerichtet. Bei einer Kollision von Eltern- und Kindesinteressen ist das Kindeswohl der bestimmende Maßstab. Im übrigen sind die Rechte der Eltern auch durch die Verpflichtung zur Rechtstreue begrenzt: Eltern haben sich gegenüber ihren Kindern rechtswidriger Handlungen zu enthalten und insbesondere die Kinder nicht als Betroffene in rechtswidriges Verhalten einzubeziehen.[49]

Das Haager Kindesentführungsübereinkommen ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts dem Kindeswohl nicht weniger verpflichtet als das Grundgesetz. Das Gericht folgerte dies aus der Präambel, in der die Bedeutung des Kindeswohls hervorgehoben wird, und aus dem Regel-Ausnahme-Mechanismus der Art. 12, 13 und 20. Letzteren interpretierte es dahingehend, daß er auf der Vermutung aufbaue, daß die sofortige Rückführung in die alte Umgebung dem Kindeswohl am besten entspreche, jedoch im Einzelfall die Widerlegung dieser Vermutung zulasse.[50] Jedenfalls gelten danach nach dem Grundgesetz keine anderen Maßstäbe als nach dem Haager Übereinkommen.

Die sofortige Rückführung muß auch aus verfassungsrechtlicher Sicht der Regelfall sein. Grundsätzlich liegt eine Rückführung im Interesse des Kindes, denn sie sorgt für die Kontinuität seiner Lebensumstände. Die restriktive Anwendung der Ausnahmeklauseln durch die Fachgerichte ist daher nicht zu beanstanden; insbesondere stehen Härten für den entführenden Elternteil der Rückführung aus Sicht des Grundgesetzes in der Regel nicht entgegen. Gegenläufige Rückführungsanträge nach vorangegangener gegenläufiger Kindesentführung bilden aber einen Sonderfall. Dabei begegnet es aus verfassungsrechtlicher Sicht keinen Bedenken, wenn der Staat, in den das Kind zunächst entführt worden war, nach längerer Aufenthaltsdauer als Ort des „gewöhnlichen Aufenthalts“ im Sinne des Art. 3 HKiEntÜ aufgefaßt wird, mit der Folge, daß die eigenmächtige Selbsthilfe des anderen Elternteils ihrerseits den Mechanismus der Art. 12, 13, 20 HKiEntÜ auslöst. Doch müssen dann jedenfalls eingehend die Voraussetzungen geprüft werden, unter denen nach Art. 13 HKiEntÜ von der Rückführung (des zurückentführten Kindes in den Staat, in den es zunächst entführt worden war) abgesehen werden kann. Das gilt vor allem dann, wenn nicht auszuschließen ist, daß das Gericht aus diesem Staat wegen der ursprünglichen Entführung seinerseits die Rückführung anordnen wird. Ein mehrfaches Rückführen darf nur dann in Kauf genommen werden, wenn das Gericht besondere Anhaltspunkte feststellt, welche die Rückführung trotz der Gefahr eines weiteren Ortswechsels rechtfertigen.[51] - Sind diese Anforderungen nicht gewahrt, ist neben dem Kind auch der belastete Elternteil in seinem Grundrecht verletzt, denn Eingriffe in das Elternrecht, auch solche zugunsten des anderen Elternteils, lassen sich verfassungsrechtlich nur durch das Kindeswohl rechtfertigen.[52]

Das Bundesverfassungsgericht äußerte sich auch zur verfahrensrechtlichen Seite des Problems. Normalerweise ist es Aufgabe der Eltern, die Interessen des Kindes im gerichtlichen Verfahren zu vertreten. Bei den gegenläufigen Kindesentführungen haben jedoch beide Elternteile zu erkennen gegeben, daß sie vornehmlich ihre eigenen Interessen durchsetzen wollen. In einer solchen Situation muß der Staat dafür Sorge tragen, daß das Kind sein eigenes Interesse, das möglicherweise weder von den Eltern noch vom Gericht zutreffend erkannt oder formuliert wird, in einer den Anforderungen des rechtlichen Gehörs entsprechenden Eigenständigkeit in dem Gerichtsverfahren geltend machen kann. Diese Verpflichtung folgt aus der in Art. 6 Abs. 2 S. 2 und Art. 2 Abs. 1 GG verankerten Schutzpflicht des Staates in Verbindung mit dem grundrechtlichen Anspruch des Kindes auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Sie läuft darauf hinaus, daß dem Kind im familiengerichtlichen Verfahren ein unabhängiger Verfahrenspfleger zur Seite gestellt werden muß, der seine Interessen vertritt. Die Möglichkeit einer solchen Verfahrenspflegschaft wird heute durch § 50 des Gesetzes über die Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit (= FGG) eröffnet. Die Gerichte sind verfassungsrechtlich dazu verpflichtet, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen.[53]

5) Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG)

[1996] [1997]

Die Berufsfreiheit kommerzieller Veranstalter stand im Mittelpunkt einer Entscheidung vom 17. Februar 1998 zur Kurzberichterstattung über öffentliche Veranstaltungen im Fernsehen [54]. Das Bundesverfassungsgericht mußte über die Verfassungsmäßigkeit rundfunkrechtlicher Vorschriften entscheiden, die den Fernsehveranstaltern das Recht einräumen, kurz und nachrichtenmäßig von allen öffentlich zugänglichen Veranstaltungen von allgemeinem Informationsinteresse zu berichten. Dieses Recht schließt die Befugnis zum Zugang zur Veranstaltung sowie zur kurzzeitigen Direktübertragung und Aufzeichnung ein, sofern der Veranstalter die Übertragung oder Aufzeichnung nicht insgesamt ausgeschlossen hat. Es besteht auch dann, wenn die Übertragungsrechte für die Veranstaltung exklusiv an eine Fernsehgesellschaft vergeben worden sind. Damit soll bei Veranstaltungen von großem Publikumsinteresse, insbesondere bei großen Sportveranstaltungen wie den Spielen der Fußball-Bundesliga, eine breite öffentliche Berichterstattung sichergestellt werden. Ein Eingreifen des Gesetzgebers war erforderlich geworden, nachdem vor allem private Fernsehveranstalter versucht hatten, ihren Zuschaueranteil durch den Erwerb exklusiver Senderechte an herausragenden Sportveranstaltungen zu vergrößern, und wegen des noch nicht flächendeckenden Empfanges der betreffenden Programme[55] erhebliche Lücken in der Versorgung der Fernsehzuschauer drohten.[56] - Das Bundesverfassungsgericht bewertete das Recht der Kurzberichterstattung im Kern als verfassungsmäßig, beanstandete aber, daß in keinem Falle eine Vergütung für den Veranstalter vorgesehen war. Der Gesetzgeber muß es jetzt für kommerzielle Veranstaltungen als ein entgeltliches Recht ausgestalten. Dabei muß er allerdings bei der Regelung des Entgeltes sicherstellen, daß die Kurzberichterstattung grundsätzlich allen Fernsehveranstaltern zugänglich bleibt.

Zunächst war darzulegen, inwiefern die Vorschriften über die Kurzberichterstattung das Grundrecht der Berufsfreiheit überhaupt berühren. Schon die Betroffenheit des sachlichen Schutzbereiches war problematisch, hindert die Verpflichtung zur Duldung der Berichterstattung doch nicht an der Durchführung der Veranstaltung. Doch der Schutz des Art. 12 Abs. 1 GG erstreckt sich auf den Beruf in allen seinen Aspekten und damit auch auf die wirtschaftliche Verwertung der beruflich erbrachten Leistung bis hin zur Akquisition von Werbung und zur Veräußerung der Fernsehübertragungsrechte. Dies gilt nicht nur für den Organisator der Veranstaltung, sondern auch für die Mitwirkenden, weswegen deren Berufsfreiheit ebenfalls betroffen ist, wenn sie - wie zum Beispiel professionelle Sportler - berufsmäßig tätig werden.[57] Darüber hinaus sah das Bundesverfassungsgericht die Fernsehgesellschaften mit Exklusivübertragungsrechten in ihrer Berufsfreiheit beeinträchtigt, weil sie aufgrund der Kurzberichterstattung der Konkurrenten Zuschauer und Werbeeinnahmen verlieren könnten.[58] Diese kurzschlüssige Argumentation muß allerdings auf Bedenken stoßen, denn sie setzt sich darüber hinweg, daß jene Fernsehgesellschaften in ihrer Tätigkeit in keiner Weise eingeschränkt werden und der einzige „Nachteil“, den sie zu befürchten haben, nämlich der geringere wirtschaftliche Wert der Übertragungsrechte, durch einen geringeren Preis ausgeglichen werden kann.

Ein weiteres Problem lag darin, daß die Vorschriften über die Kurzberichterstattung nicht primär auf die Regelung einer Berufstätigkeit abzielen. Sie gelten für alle öffentlichen Veranstaltungen unabhängig von ihrem kommerziellen oder nichtkommerziellen Charakter. Doch nicht nur unmittelbar berufsregelnde Normen können in den Schutzbereich der Berufsfreiheit eingreifen, sondern auch Normen mit „objektiv berufsregelnder Tendenz“.[59] Eine griffige Definition für dieses unscharfe Merkmal gab das Gericht auch diesmal nicht. Eine „objektiv berufsregelnde Tendenz“ soll aber jedenfalls dann gegeben sein, wenn die Normen nach Entstehungsgeschichte und Inhalt schwerpunktmäßig Tätigkeiten betreffen, die typischerweise beruflich ausgeübt werden. Da gerade bei den Veranstaltungen, deren Übertragung sich vermarkten läßt, eine kommerzielle Organisation und Verwertung heute üblich ist, war diese Voraussetzung erfüllt.[60]

Als Berufsausübungsregelung und damit Eingriff auf niedrigster Stufe ist die Verpflichtung zur Duldung der Berichterstattung im Fernsehen nach der sogenannten „Stufentheorie“ des Bundesverfassungsgerichts[61] dann verfassungsmäßig, wenn sie durch vernünftige Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt wird und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht, also zum Erreichen des verfolgten Zweckes geeignet und erforderlich ist und den Betroffenen nicht unzumutbar belastet.[62] Das Bundesverfassungsgericht nahm hier eine geradezu lehrbuchmäßige ausführliche, klar gegliederte und leicht nachvollziehbare Prüfung vor. Als gewichtigen Grund des Gemeinwohls arbeitete es das öffentliche Interesse an einer nicht nur flächendeckenden, sondern auch vielfältigen Fernsehberichterstattung über die im Publikumsinteresse stehenden Veranstaltungen heraus. Die Informationsfunktion des Mediums Fernsehen, die der freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung dienen soll, beschränkt sich nicht auf den Bereich der Politik. Das Gericht hob in diesem Zusammenhang die über den bloßen Unterhaltungswert hinausgehende gesellschaftliche Bedeutung der großen Sportveranstaltungen hervor, die sich in der umfassenden pluralistischen Berichterstattung, wie sie das Grundgesetz mit der Garantie der Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) sicherstellen will,[63] niederschlagen muß.[64] - Was den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit betraf, bestanden hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit des Kurzberichterstattungsrechts keine Bedenken; insbesondere sind Nachverwertungsrechte oder die Ermöglichung einer mit Standbildern illustrierten Wortberichterstattung angesichts der Besonderheiten des Mediums Fernsehen keine Alternativen. Im Kern ist die gesetzliche Regelung auch angemessen (zumutbar, verhältnismäßig im engeren Sinne), zumal sie die Berichterstattung auf kurze, nachrichtenmäßige Beiträge beschränkt. Sie ist lediglich mit Rücksicht auf den Erwerber des Übertragungsrechtes verfassungskonform dahingehend auszulegen, daß das Kurzberichterstattungsrecht nicht vor dem Übertragungsrecht wahrgenommen werden darf, wenn dieses zur Sicherung eines ausreichenden Veranstaltungsbesuchs an eine vertragliche Karenzzeit gebunden ist. Als unverhältnismäßig erwies sich indessen die durchgehende Ausgestaltung als unentgeltliches Recht. Dabei fiel ins Gewicht, daß mit dem Berichterstattungsrecht das Ergebnis der beruflichen Leistung von Veranstalter und Mitwirkenden nicht nur der Allgemeinheit, sondern auch den Konkurrenten des Erwerbers der Übertragungsrechte zukommt, und diesen die Zahlung eines angemessenen Entgeltes für die Möglichkeit der Berichterstattung zugemutet werden kann.[65]

 

[ Seitenanfang ] Zurück ] Home ] Weiter ]   © Thomas.Schmitz@jur.uni-goettingen.de

horizontal rule

[1]  Zum Vergleich: 1997 waren es 5.006 Erledigungen (darunter 4.575 durch Entscheidung) und 5.078 neue Verfahren).

[2]  Darunter 99.087 Verfassungsbeschwerden. Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Chronik [1999] dürften damit bereits mehr als einhunderttausend Verfassungsbeschwerden entschieden worden sein.

[3]  1997 waren es 4.496 Entscheidungen.

[4]  Siehe dazu die Chroniken für 1996 und 1997, ERPL/REDP, Vol. 10 (1998), Nr. 1, S. 209 und Vol. 10 (1998), Nr. 4, S. 1181 f.

[5]  Einige der hier besprochenen Entscheidungen sind im Internet beim Internetprojekt Deutsches Fallrecht [DFR] (ehemals German Case Law [GLAW]) oder bei Bethge/Rozek, Projekt öffentliches Recht im WWW) veröffentlicht. Außerdem finden sich Entscheidungen und Pressemitteilungen ab 1998 auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts. Häufig kann eine Veröffentlichung im Internet auch schon dadurch gefunden werden, daß man die Fundstelle in der Entscheidungssammlung (also z.B. "BVerfGE 98, 218") als zusammenhängendes Stichwort bei den Suchmaschinen eingibt.

[6]  BVerfGE 97, 332 (= Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, zitiert nach Band und Seitenzahlen, hier also: 97. Band, Beginn der zitierten Entscheidung auf S. 332) = Neue Juristische Wochenschrift (= NJW) 1998, 2128.

[7]  Siehe bereits BVerfGE 1, 14 (52); 4, 144 (155).

[8]  Ständige Rechtsprechung des Ersten Senates des Bundesverfassungsgerichts seit BVerfGE 55, 72 (88), des Zweiten Senates seit BVerfGE 92, 277 (318); siehe dazu auch die Chroniken für 1995 und 1996, ERPL/REDP, Vol. 8 (1996), Nr. 4, S. 1275 ff. und ERPL/REDP, Vol. 10 (1998), Nr. 1, S. 220 ff.

[9]  Schon eine frühere Entscheidung, die in diese Richtung tendierte und an die sich das Gericht jetzt teilweise anlehnte, hatte Kritik hervorgerufen, vgl. BVerfGE 50, 217 ff. und dazu Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, 10. Aufll. 1994 und 11. Auflage 1999, § 42 Randnummer (= Rdnr.) 25 mit weiteren Nachweisen.

[10]  BVerfGE 97, 332 (345) in Anlehnung an BVerfGE 50, 217 (225 ff.).

[11]  BVerfGE 97, 332 (343), auch insofern in Anlehnung an BVerfGE 50, 217 (226); dazu kritisch bereits Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, 10. Auflage 1994, § 42 Rdnr. 25.

[12]  BVerfGE 97, 332 (345).

[13]  Vgl. BVerfGE 97, 332 (346 f.).

[14]  Vgl. BVerfGE 97, 332 (347 f.).

[16]  Siehe dazu bereits die Chronik für 1994, ERPL/REDP, Vol. 7 (1995), Nr. 4, S. 1141 ff.; kritisch zu diesem Grundverständnis der Rundfunkfreiheit Hain, Rundfunkfreiheit und Rundfunkordnung, 1993; vergleiche (= vgl.) auch Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Band 1, 1999, Art. 5 Rdnr. 107 ff.

[17]  Siehe dazu Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Band 1, 1999, Art. 5 Rdnr. 104 ff. mit weiteren Nachweisen.

[18]  Ausdrücklich offen gelassen wurde diese Frage in BVerfGE 57, 295 (318); siehe dazu Starck, Juristenzeitung (= JZ) 1983, 405 (407 ff.); Bullinger, Archiv für Presserecht (= AfP) 1982, 72.

[19]  BVerfGE 97, 298 [zweite Quelle] = NJW 1999, 2659; siehe dazu auch die Anmerkung von Buchholtz, AfP 1998, 201.

[20]  BVerfGE 97, 298 (310) in Anlehnung an BVerfGE 95, 220 (234).

[21]  BVerfGE 97, 298 (310 ff., 314 f.).

[22]  Siehe BVerfGE 57, 295 (327); 73, 118 (182 ff.); 83, 238 (322 ff.).

[23]  BVerfGE 97, 298 (312 ff.).

[24]  Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht (= ZUM) 994, 575 (577).

[25]  Siehe BVerfGE 82, 60 (85 ff.); 89, 346; 91, 93.

[26]  Siehe dazu bereits die Chronik für 1994, ERPL/REDP, Vol. 7 (1995), Nr. 4, S. 1144 f.

[27]  Vgl. bereits BVerfGE 82, 60 (85 f.) sowie jetzt BVerfGE 99, 216 (233) [zweite Quelle]; 99, 246 (259 f.) [zweite Quelle].

[28]  BVerfGE 99, 246 [zweite Quelle] = JZ 1999, 721 = NJW 1999, 561; BVerfGE 99, 268 [zweite Quelle] = NJW 1999, 565; BVerfGE 99, 273 [zweite Quelle] = NJW 1999, 564; siehe dazu auch die Anmerkung von Lehner, JZ 1999, 726.

[29]  BVerfGE 99, 246 (259 ff.); vgl. auch daran anschließend BVerfGE 99, 268 (271); 99, 273 (277).

[30]  BVerfGE 99, 246 (263 ff. und Leitsatz b); daran anschließend BVerfGE 99, 268 (271); 99, 273 (277).

[31]  Vgl. BVerfGE 99, 246 (262 f.); daran anschließend 99, 268 (271); 99, 273 (277).

[32]  BVerfGE 99, 268 (271).

[33]  BVerfGE 99, 246 (265).

[34]  BVerfGE 99, 273 (277).

[35]  BVerfGE 99, 216 [zweite Quelle] = JZ 1999, 723 = NJW 1999, 557 = Deutsches und Europäisches Familienrecht (= DEuFamR) 1999, 119; siehe dazu auch die Anmerkung von Glanegger, Deutsches Steuerrecht 1999, 227.

[36]  Vgl. bereits BVerfGE 87, 1 (38 f.); 88, 203 (258 f.).

[37]  BVerfGE 99, 216 (233 f., 236).

[38]  BVerfGE 99, 216 (234).

[39]  BVerfGE 99, 216 (241 f.).

[40]  Vgl. dazu BVerfGE 99, 216 (219 ff., 235 f., 238 f.).

[41]  Siehe dazu bereits BVerfGE 76, 1 (72).

[42]  Vgl. BVerfGE 99, 216 (232).

[43]  Vgl. BVerfGE 99, 216 (244 f.).

[44]  Vgl. BVerfGE 99, 216 (242 f.).

[45]  BVerfGE 99, 145 [zweite Quelle] [dritte Quelle] = DEuFamR 1999, 55; siehe dazu auch die Anmerkungen von Coester-Waltjen, JZ 1999, 462 und Hohloch, DEuFamR 1999, 73.

[46]  Einige Entscheidungen sind auszugsweise abgedruckt in DEuFamR 1999, 60 ff.

[47]  Siehe zu den grundrechtlichen Schutzpflichten bereits die Chroniken für 1995 und 1997, ERPL/REDP, Vol. 8 (1996), Nr. 4, S. 1267 ff. und Vol. 10 (1998), Nr. 4, S. 1194.

[48]  Vgl. dazu Robbers, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Band 1, 1999, Art. 6 Rdnr. 145 und die dortigen Nachweise zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

[49]  BVerfGE 99, 145 (156 f.).

[50]  Vgl. BVerfGE 99, 145 (158).

[51]  Vgl. BVerfGE 99, 145 (159 ff.).

[52]  BVerfGE 99, 145 (164).

[53]  Vgl. BVerfGE 99, 145 (157, 162 f.).

[54]  BVerfGE 97, 228 [zweite Quelle] [dritte Quelle] = JZ 1998, 510 = NJW 1998, 1627 = Deutsches Verwaltungsblatt (= DVBl.) 1998, 393 = ZUM 1998, 240; siehe dazu auch die Besprechungen und Anmerkungen von Lenz, NJW 1999, 757; Diesbach, ZUM 1998, 554; Lauktien, ZUM 1998, 253; Schwabe, JZ 1998, 514.

[55]  In der Zukunft könnte sich dasselbe Problem mit dem Erwerb von Exklusivrechten durch die Veranstalter von Pay-TV stellen.

[56]  Mittlerweile hat auch die Europäische Union auf das Problem reagiert und in der Fernseh-Richtlinie entsprechende Maßnahmen der Mitgliedstaaten ausdrücklich zugelassen, vgl. den 1997 eingefügten Art. 3a (nach Richtlinie 97/36/EG vom 30. Juni 1997).

[57]  Vgl. BVerfGE 97, 228 (253 f.).

[58]  Vgl. BVerfGE 97, 228 (254).

[59]  Ständige Rechtsprechung, vgl. jetzt BVerfGE 97, 228 (254), vorher etwa BVerfGE 70, 191 (214); 95, 267 (302); allgemein zu diesem Merkmal Rüssel, Juristische Arbeitsblätter 1998, 406. - An einer „objektiv berufsregelnden Tendenz“ fehlt es etwa bei der unten behandelten Rechtschreibreform, auch wenn deren bereite Umsetzung in der Schule mittelfristig Verlage, Presseagenturen und andere Wirtschaftsunternehmen zur Anpassung zwingt: Gegen Veränderungen des Marktes schützt das Grundrecht der Berufsfreiheit nicht - auch nicht gegen solche, die vom Staat ausgehen (BVerfGE 98, 218, 258 f.).

[60]  Vgl. BVerfGE 97, 228 (254 f.).

[61]  Grundlegend BVerfGE 7, 377; siehe dazu bereits die Chroniken für 1996 und 1997, ERPL/REDP, Vol. 10 (1998), Nr. 1, S. 236 und Vol. 10 (1998), Nr. 4, S. 1200.

[62]  Ständige Rechtsprechung, jetzt BVerfGE 97, 228 (255); erstmals BVerfGE 7, 377 (404 ff.).

[63]  Vgl. zur nicht nur abwehrrechtlichen Funktion der Garantie der Rundfunkfreiheit nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts oben, 2).

[64]  BVerfGE 97, 228 (255 ff.). Dementsprechend kann in dem Kurzberichterstattungsrecht auch keine Verletzung der Rundfunkfreiheit gesehen werden. Ein Recht, Programmkonkurrenz zu unterbinden, enthält Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG nicht (BVerfGE 97, 228, 266 ff.).

[65]  BVerfGE 97, 228 (258 ff.).

 

[ Seitenanfang ] Zurück ] Home ] Weiter ]   © Thomas.Schmitz@jur.uni-goettingen.de